Ein philosophischer Kriminalroman
„Wer zuletzt lacht“ ist ein philosophischer Kriminalroman von Roland Luft. Inspektor Buchinger sieht sich mit einem Kriminalfall konfrontiert, der aus einem Theaterstück stammen könnte: ein Raum, zwei Protagonisten, ein Toter, mindestens ein Geheimnis. Die Recherchen führen nicht nur in die Vergangenheit und in die Logik, sondern auch nach Ramsau am Dachstein und in die Phantasie. Drei Orte, die geografisch genau auf einer Linie liegen, sind protestantische Hochburgen (gewesen), zumindest vor dem Siegeszug der Esoterik: Spielen Religionen auch heute noch eine Rolle? Fordern sie einen Blutzoll, mit dem niemand mehr gerechnet hätte 200 Jahre nach der Aufklärung? Buchinger heftet sich an die Fährte eines anscheinend oder nur scheinbar offensichtlichen Falles und entdeckt: Wagner-Jauregg, die Tracht, Nazis und andere Ungustln, sein Begehren (wieder einmal: Bellucci) und dessen Ähnlichkeit zur Pilgerreise, Aristoteles und die Freundschaft, ein provokantes Argument, den Flug der Fledermaus, eine vergrabene Klomuschel, den Tod.
Die folgenden Kapitel bieten Hintergrundinfos zum Romangeschehen.
Über die Freundschaft
Aristoteles, geb. 347 v. Chr., ist sicher einer der einflussreichsten Denker des Abendlandes. Bis weit ins Mittelalter hinein wurde er nur „Der Philosoph“ genannt. In seiner Schrift „Nikomachische Ethik“, benannt nach seinem Sohn Nikomachos, beschäftigt er sich unter anderem mit dem Wesen der Freundschaft.
Die zwei Grundbedingungen dafür, dass man von Freundschaft reden kann, sind seiner Meinung nach Gegenliebe und Wohlwollen: „Dem Freunde aber, sagt man, muss man um seiner selbst willen Gutes wünschen.“ Mit Objekten kann einen daher keine Freundschaft verbinden, da sie zu keiner Gegenliebe fähig sind. Liebe zu Objekten kann es hingegen sehr wohl geben.
Weiters müssen Freunde vom Wohlwollen und der Gegenliebe des jeweils anderen wissen, so Aristoteles. Sind Menschen nur aufgrund des Nutzens, den sie voneinander haben, oder aufgrund der Lust, die sie aus der Verbindung ziehen, miteinander befreundet, so kann diese Beziehung nicht als vollkommene Freundschaft bezeichnet werden und sie wird wahrscheinlich nicht von großer Dauer sein. Und Dauer gehört für Aristoteles wesentlich zur Freundschaft. Zusammen zu leben wäre nicht schlecht, ebenso eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden. So heißt es einmal bei Kierkegaard: „Die absolute Bedingung aller Freundschaft ist die Einheit der Lebensanschauung.“
„Nichts hängt so sehr von unserm freien Willen ab, als die Zuneigung und Freundschaft“, meint Michel de Montaigne und zieht damit eine scharfe Trennlinie zwischen Familie und Freundschaft. Denn die Familie kann man sich nicht aussuchen. Einige Sätze noch zum Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft: Während die Liebe zwischen Menschen für die meisten eine exklusive Angelegenheit darstellt, ist dies bei der Freundschaft nicht der Fall. Wir akzeptieren ohne jede Eifersucht, dass der Freund / die Freundin auch noch andere Freundschaftsbeziehungen lebt. Liebende hingegen legen gemeinhin großen Wert auf das Wissen, die Einzigen zu sein, die auf diese spezielle Art vom anderen geliebt werden. Weiters endet Freundschaft häufig durch ein fadeout, es gibt kein Schlussgespräch, kein explizites Ende. Man sieht sich immer weniger, lebt sich auseinander, die Freundschaft schläft ein.
Peter Singer
Der Provokateur
Peter Singer, geb. 1946, Autor des vieldiskutierten Werks „Praktische Ethik“. Bekannt und im deutschsprachigen Raum berüchtigt wurde Singer wegen seiner Haltung zur Abtreibung, die so weit geht, sogar die Tötung eines Neugeborenen in Betracht zu ziehen: „Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.“ Die Argumentation gründet auf der Annahme, dass ein schwer behinderter Säugling keine Interessenspräferenzen haben könne und somit keine Person im engen Wortsinn sei. Diese seine Haltung ist der Grund dafür, dass Singers Auftritte im universitären Kontext, aber auch in der medialen Öffentlichkeit in Deutschland und Österreich der 80er- und 90er Jahre von Protestmaßnahmen begleitet wurden. Seine Thesen wurden im Umfeld nationalsozialistischer Euthanasiephantasien verortet, ein Dammbruch in Richtung Endlösung wurde befürchtet.
Ein weiteres Betätigungsfeld Singers ist sein Engagement für die Tierrechtsbewegung. Hier nimmt er die Position ein, dass man keine sinnvolle Grenze zwischen Mensch und Tier ziehen könne. Dem Menschen mehr Rechte als Tieren einzuräumen nur deshalb, weil sie Menschen seien: Diese These wurde und wird als Speziesismus seit Jahrzehnten intesiv diskutiert. Und von Singer vehement abgelehnt.
Singers Argument zur Liberalisierung der Abtreibung im Detail. Das „klassiche“ Argument gegen eine Legalisierung von Abtreibung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
1. Es ist falsch, ein unschuldiges menschliches Wesen zu töten.
2. Ein menschlicher Fetus ist ein unschuldiges menschliches Wesen.
Schlussfolgerung: Daher ist es Unrecht, einen menschlichen Fetus zu töten.
Im Grundkurs für Logik an einem Institut für Philosophie lässt sich leicht das Wissen erwerben, wie man eine Argumentation attackiert. Dafür gibt es genau zwei Möglichkeiten. Erstens: Der Nachweis, dass die Schlussweise, also die Argumentation falsch ist. Das bedeutet, dass sich beim Schließen ein Fehler eingeschlichen hat, also etwa die Verletzung einer der Argumentformen (z.B. modus ponens) oder die Verwendung mehrdeutiger Begriffe usw. Zweitens: Eine der Prämissen (hier die Sätze 1. und 2.) ist falsch. Für gewöhnlich zweifeln Abtreibungs-Befürworter*innen daran, dass die zweite Prämisse „Ein menschlicher Fetus ist ein unschuldiges menschliches Wesen“ wahr ist. Der strittige Punkt ist das Wort „menschlich“. Peter Singer hingegen attackiert die erste Prämisse, was auf den ersten Blick nicht nur überraschend, sondern fast schon schamlos, jedenfalls aber sehr provokant erscheint.
Thomas Nagel
Über das Fremdpsychische
„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ fragte 1974 der amerikanische Philosoph Thomas Nagel, geb. 1937, in einer gleichnamigen Schrift. Dieser Text ist der wohl einflussreichste in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob subjektives Empfinden durch die Reduktion auf physikalische Größen vollständig beschrieben werden kann (Antwort: nein!), und mit der Frage, ob wir wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein (Antwort: nein!). Der springende Punkt ist, dass wir die fremde Erlebnisperspektive nicht einnehmen können.
1. Es gibt Begriffe, die nur erwerben kann, wer in der Lage ist, eine bestimmte Erfahrungsperspektive einzunehmen.
2. Tatsachen, die man nur erfassen kann, wenn man über derartige Begriffe verfügt, sind subjektive Tatsachen.
3. Tatsachen, die die Frage betreffen, wie es ist, bestimmte Empfindungen zu haben, sind in diesem Sinne subjektiv.
4. Zumindest im Augenblick haben wir noch keinerlei Vorstellung davon, wie es möglich sein soll, ihrer Natur nach subjektive mentale Zustände auf objektive physikalische Zustände zu reduzieren.
5. Deshalb können wir auch nie wissen, wie es ist, ein Wesen mit phänomenalen Geisteszuständen zu sein, die sich radikal von den unseren unterscheiden.
Salvador Dali
Die unsichtbare Büste Voltaires
Salvador Dalis Bild „Die unsichtbare Büste Voltaires“ ist in mehrerlei Hinsicht das zentrale Bild des Romans. Voltaire ist einer der größten Aufklärer Europas – das 18. Jahrhundert wird in Frankreich auch „das Jahrhundert Voltaires“ genannt – und als solcher wohl mit jedem Kriminalroman, nicht nur mit einem philosophischen, kompatibel. Immerhin geht es doch in jedem Krimi um Aufklärung. Das Bild zeigt in der Mitte das schwarz-weiße Portrait des französischen Philosophen. Allerdings wird diese Sichtweise sich nicht jedem*r Betrachter*in auf den ersten Blick erschließen, meist drängt sich eine andere Interpretation auf: Zwei Geistliche (?) bewegen sich unter einem Torbogen auf die Betrachter zu. Diese Assoziation mit Religiösem passt perfekt zum Romangeschehen.

Das simple Phänomen der Kippfiguren oder Umspringbilder demonstriert den einfachen Sachverhalt, dass die Dinge (alle? einige?) auf (mindestens) zwei Weisen wahrgenommen werden können. Siehe auch das Beispiel links.
(https://www.philoclopedia.de/2018/06/09/thomas-nagel-wie-ist-es-eine-fledermaus-zu-sein/)
Sigmund Freud, Julius Wagner-Jauregg,
Alfred Adler
Über Sigmund Freud braucht man wohl nichts zu schreiben. Der „Erfinder“ der Psychoanalyse ist bekannt wie ein bunter Hund, trotzdem spielt er in diesem Roman nicht einmal eine Nebenrolle. Er tritt als der größere Bruder – er selbst hätte wohl „Vater“ gesagt – von Alfred Adler auf. Alfred Adler war in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts so etwas wie ein Superstar der Psychotherapie, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Sein Versuch, sich an der Universität Wien zu habilitieren, war an niemandem Geringeren als Julius von Wagner-Jauregg, dem Nobelpreisträger von 1927 für Medizin, gescheitert. Wagner-Jaureggs Erfindung hatte sich nach wenigen Jahren überholt, Adlers Bedeutung für die Psychotherapie jedoch nicht. Sigmund Freud hatte sich 1920 in seinem „Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker“ positiv über Wagner Jauregg geäußert, für den abtrünnigen Alfred Adler fand er 1937 weniger freundliche Worte: „Für einen Judenbuben aus einem Wiener Vorort ist ein Tod in Aberdeen, Schottland, eine unerhörte Karriere und ein Beweis, wie weit er es gebracht hat.“ Vatermord wird halt nicht wirklich gern gesehen.
Kurz vor seinem Tod stellte Wagner-Jauregg einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Diesem Antrag wurde posthum nicht entsprochen, weil seine erste Frau Jüdin gewesen war. Wagner-Jauregg hielt das Frauenwahlrecht für eine Entartung, er war Mitglied des Deutschsozialen Volksbundes. Ihm wurde Sympathie für eugenische Utopien, Zwangssterilisation und nationalsozialistisches Gedankengut vorgeworfen.
„In Oberösterreich, wo die Landesnervenklinik nach Wagner-Jauregg benannt ist, setzte Landeshauptmann Josef Pühringer nach Umbenennungsforderungen eine Expertenkommission ein, die ein Gutachten zur Frage des Amtes der Oberösterreichischen Landesregierung erstellen sollte, ob „der Namensgeber der Landes-Nervenklinik [Julius Wagner-Jauregg] als historisch belastet angesehen werden muss“. Dieses 2005 veröffentlichte Gutachten beinhaltete eine Reinwaschung von Julius Wagner-Jauregg, und zwar in allen inkriminierten Punkten.“ (Neugebauer, W. et al.: Die Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen und der Beitrag des DÖW, https://www.doew.at/cms/download/bvfsp/bewahren_wn_czech_schwarz.pdf, 1.11.2020)
Die Landesnervenklinik in Linz/Donau, die seit 1970 Wagner-Jauregg-Krankenhaus genannt wurde, heißt seit 1.1.2016 Neuromed Campus des Kepler Universitätsklinikums.
Ramsau am Dachstein
Ramsau ist nicht nur wegen seiner ehrfurchtgebietenden Kulisse berühmt. Eine turbulente Geschichte rund um die Konfessionen rückte den Ort in den Fokus der Auseinandersetzungen zwischen gegenreformatorischen Jesuiten und Lutheranern.
(…) die Geschichte des Glaubens, die hatte es Buchinger angetan. Die Gegenreformation rollte bis zum Toleranzpatent Josephs II. 1781 mit gewaltiger Propaganda und gewaltigem Erfolg durch die österreichischen Lande. Flankiert vom Jesuitentheater und dem bombastischen optischen Spektakel des Barocks wurde die Rückgewinnung protestantischer Territorien vorangetrieben. Doch an etlichen hochgelegenen Regionen wie dem Weißensee in Kärnten und der Ramsau in der Steiermark zog die Gegenreformation quasi vorbei, hier konnte die katholische Kirche kaum Boden gewinnen.
Im oberösterreichischen Zentralraum war der Kampf gegen die unkatholischen Ketzer ungleich erfolgreicher: Im Jahr 1650 bekannten sich noch über 1000 Oberösterreicher zum Protestantismus, Zwangsmaßnahmen wie Emigration und Konversion senkten diese Zahl auf null. In abgelegeneren Gebieten wie in der nach dem Bärlauch benannten Ramsau biss sich die Gegenreformation fest: Der Widerstand der Menschen hier war zu groß. Sie konvertierten nur scheinbar zum Katholizismus; das zeigte sich vor allem darin, dass sich 1781 fast alle Ramsauer als Lutheraner outeten.
Wie konnte der sogenannte Geheimprotestantismus überleben? Ketzerische Bücher zu besitzen war verboten. Aus Deutschland wurde die gefährliche Ware zu Fuß geliefert, und zwar über den sogenannten Bibelschmugglerweg. Dieser führte im Süden Oberösterreichs von Bad Ischl über Bad Goisern, eine Hochburg des Geheimprotestantismus, zur Goisererhütte, weiter über Gosau und den Steiglpass am Gosaukamm nach Ramsau. Noch heute, mehr als 20 Generationen später, ist Österreichs älteste Lutherbibel des Bibeldruckers Hans Lufft im Besitz der in Ramsau ansässigen Familie Wieser am Wieserhof. Die gefährlichen Schriftstücke wurden an einfallsreichen Orten, unter anderem in doppelten Böden, in Hohlräumen und unter der Futterkrippe der störrischsten Kuh im Stall versteckt.
Die Kryptoprotestanten, so nannte man die im Geheimen agierenden Lutheraner, hatten mit schweren Strafen zu rechnen, wenn ihr Glaube entdeckt wurde. Noch 1731 wurden zahlreiche Familien aus der Region Bad Goisern – Gosau zur Emigration nach Siebenbürgen gezwungen. Ähnliches wird aus anderen Teilen Oberösterreichs berichtet; kurioserweise traf es nicht die Hochburgen Scharten und Wallern, sondern das Gebiet zwischen Schwanenstadt und Gmunden.
Um diesen und ähnlichen Sanktionen zu entgehen, waren neben dem Verstecken noch andere Maßnahmen notwendig geworden. So wurde zumeist das Titelblatt der Geheimbibeln erntfernt. Die gegenreformatorischen Inquisitoren waren zwar nur in Ausnahmefällen des Lesens mächtig, den Namenszug Martin Luthers hätten sie jedoch erkannt.
Täuschung war also die erfolgreiche Strategie der Geheimprotestanten, dachte Buchinger, lehnte sich zurück und streckte seine nicht mehr ganz so frischen Glieder. Kaum war das Toleranzpatent erlassen worden, bekannten sich 127 von 130 Familien zum lutherischen Glauben. Das ist so ähnlich, wie einen Trachtenanzug zu tragen, aber mit einer Haltung, die kein Hehl aus der Leidenschaft für Jeans machte.
Zuvor hatten sich die Gläubigen bei natürlichen Kanzeln getroffen, um geheime Gottesdienste abzuhalten, etwa auf dem zirka 300 Höhenmeter über dem Ort befindlichen Predigtstuhl. Sie hatten heimlich die verbotenen Bücher gelesen. Welche Wertschätzung des geschriebenen Worts! Buchinger konnte seine Sympathie dafür nicht leugnen, auch wenn er von dem Konzept des heiligen Worts gar nichts hielt.
Friedrich Nietzsche
1844 – 1900
Das trunkene Lied
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!«
Arthur Schopenhauer
1788 – 1860
In Kapitel 10 heißt es: Mit aller Klarheit sehe ich, was das Leben eigentlich ist: ein stetiger Mahlstrom des Bösen, der sich unaufhaltsam in Richtung des Todes bewegt, ein Kampf aller gegen alle, eine einzige Orgie an Boshaftigkeit und Falschheit. Es wird gelogen und betrogen und gemordet, ganze Heerscharen an Menschen, Vätern und Müttern und Töchtern und Söhnen purzeln von einer Bühne, die plötzlich kippt, alle gemeinsam in einen riesigen schwarzen Schlund, der gierig verschlingt, was er kriegen kann. Dieser Rausch des Gebärens und Verreckens ist durch keine Fantasie zu toppen: Wir leben in der entsetzlichsten aller Welten. Und alles, was wir tun, ist nur ein Ablenkungsmanöver von dieser furchtbaren Wahrheit, nämlich dass all diese Vorgänge, das Verlieben und Vertrauen, die Freude und das Nachdenken nichts anderes sind als Ausdruck eines Willens, der sich mit ungeheurer Kraft über diesen Planeten wälzt. Und dieser Wille will eigentlich gar nichts, er sorgt nur dafür, dass er nicht ins Leere läuft, dass er sich selbst erhält. Für die unendliche Leere, für das erschütternde Fehlen von Sinn in all dem, was wir tun, ist der Begriff „Vakuum“ eigentlich schon ein Euphemismus. Sinn ist eine Lüge, die sich nicht einmal selber vertraut. Wir alle ahnen, dass da gar nichts ist, keine Psyche und keine Ewigkeit und nichts Geistiges, nur pure Materie, die sich wandelt und – völlig lächerlich! – einbildet, da wäre mehr. Da ist nicht mehr: Da sind nur Zellen, die sich teilen und letztlich wieder in der Erde aufgehen.
Und – im selben Kapitel – ein wenig später: Die Schönheit täuscht, sie tut nur so, als wäre alles harmlos. In Wirklichkeit ist nichts schön, das Schöne kaschiert nur das Eigentliche, das erbarmungslose Wechselspiel von Verletzungen, Grausamkeiten und Tod. Die Natur eben.
Beide Stellen erinnern frappant an Artur Schopenhauers Konzept des Willens. Der Wille ist das, was eigentlich ist, das Grundprinzip des Seins.
„Der Wille, selbst grundlos, waltet überall: Er sorgt dafür, dass der Stein zu Boden fällt, dass es überall Leben gibt, dass Kristalle wachsen und Magneten sich nach Norden ausrichten. Der Wille ist eine universale Kraft. Er ist das „Ding an sich“, das Immanuel Kant für unerklärbar hält. Kant spricht dem menschlichen Verstand die Fähigkeit, das tatsächliche Wesen hinter der Welt der Erscheinungen zu erkennen, ab. Das „Ding an sich“ bleibt in seiner Konzeption der Welt den Sinnen verborgen. Doch dieses „Ding an sich“ ist eben nichts anderes als der Wille! Verborgen bleibt die Kausalität des Willens, obgleich jedermann seine Wirkung oder seine Erscheinungsformen erkennen kann. Der Wille ist das Grundprinzip des Daseins und erzeugt alles Wirken und Sein in der Welt. Der Wille unterliegt nicht dem Satz vom zureichenden Grunde, er ist unabhängig von Raum, Zeit und Kausalität. Er ist die Einheit, die jede Vielheit hervorbringt. Der Wille lässt sich in etwa mit dem menschlichen Verstand vergleichen: Dieser ist keine Sache, die man mit Händen greifen kann, sondern ein abstrakter Begriff. Doch wenn Menschen ihren Verstand einsetzen, so können sie eine Vielheit von Dingen damit berechnen, planen, erfinden usw. Ähnlich verhält es sich mit dem Willen. Der Wille ist überdies vollkommen frei und unabhängig. Aber: Die Freiheit des Willens ist nicht mit der Freiheit der menschlichen Handlungen identisch. Letztere sind immer den Gesetzen von Raum, Zeit und Kausalität unterworfen.
Der Mensch ist in seinem Handeln immer an das Gesetz der Kausalität gebunden. Das ganze Leben ist ein Getriebensein, das im endlosen Kreislauf von Wollen und Begehren abläuft. Eigentlich ist das Leben nichts weiter als ein „aufgeschobenes Sterben“, denn der Tod hat uns bereits seit der ersten Minute des Lebens in seinen Klauen. Leben ist Leiden. Kein plumper Optimismus, keine Religion und keine selbst gezimmerte Mythologie können den Menschen vor dieser bitteren Wahrheit beschützen. Diejenigen Menschen, die den wirkenden Willen vorbehaltlos bejahen und ihn walten lassen, fallen dem Egoismus anheim: Das Subjekt nimmt dann alles in der Welt so wahr, als existiere es nur für es selbst. Die Vernunft befähigt den Menschen jedoch zum Mitleiden. Er kennt ja das Leiden aus eigener Erfahrung und kann daher das Leiden anderer Lebewesen verallgemeinern und nachvollziehen. Führt dieses Mitleiden dazu, dass die eigenen Handlungen zugunsten des anderen ausfallen, so ist der Teufelskreis des Egoismus durchbrochen. Der Mensch fühlt, dass sein Leiden und das Leiden der anderen den gleichen Willen als Quelle haben. Erst dann kann er den Weg zu Gerechtigkeit und Tugend beschreiten. Letztlich kann jedoch nur der Asket, der freiwillig seinen Trieben entsagt, dem Willen und dem Leiden der Welt entfliehen.“ (https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-welt-als-wille-und-vorstellung/3696, 1.11.2020)
Wahlverwandtschaften
Im Jahr 1809 erscheint Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, ein tragischer Roman in einem verdichteten Raum. Goethe selbst schreibt in einem Brief an Zelter 1830, dass er „in seinen [meinen] Wahlverwandtschaften die innige und wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen bemüht war“. Wie in der griechischen Tragödie entfaltet sich in diesem Text eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes mit einer unaufhaltsamen und raschen Dynamik. Die wechselseitige Anziehung und Abstoßung der Elemente durchbricht auf zerstörerische Art und Weise die sittliche und gesellschaftliche Ordnung (vgl. Zmegac: Geschichte der deutschen Literatur, Bd I/2, S.200). Lediglich die Entsagung vermag sich der „leidenschaftlichen Notwendigkeit“ entgegenzustellen.
Die Geschichte des Romans, der Goethes Annäherung an die Weltsicht der Romantik dokumentiert, ist schnell erzählt: Eduard und Charlotte leben zurückgezogen auf dem Land. Als sie zwei Gäste einladen, den Hauptmann und Ottilie, entstehen neue Beziehungen, und zwar zwischen Charlotte und dem Hauptmann und zwischen Eduard und Ottilie. Insofern dringt die Leidenschaft mit Gewalt in die gesellschaftliche Ordnung ein. Die Vernunft vermag dieser Leidenschaft nichts entgegenzusetzen, letztlich endet der Roman tragisch, der Tod führt Regie.
Langeweile
Gedanken zu einem Phänomen
„Ein geistreicher Mensch hat, in gänzlicher Einsamkeit, an seinen eigenen Gedanken und Phantasien vortreffliche Unterhaltung, während von einem Stumpfen die fortwährende Abwechslung von Gesellschaften, Schauspielen, Ausfahrten und Lustbarkeiten die marternde Langeweile nicht abzuwenden vermag.“
„Von dieser (Langenweile) sind daher von allen die Großen und Reichen gemartert, und hat von ihrem Elend schon Lukretius eine Schilderung gegeben, deren Treffendes zu erkennen man noch heute, in jeder großen Stadt, täglich Gelegenheit findet.“
„Überhaupt kann Jeder im vollkommensten Einklange nur mit sich selbst stehn; nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten: denn die Unterschiede der Individualität und Stimmung führen allemal eine, wenn auch geringe, Dissonanz herbei. Daher ist der wahre, tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe, dieses, nächst der Gesundheit, höchste irdische Gut, allein in der Einsamkeit zu finden und als dauernde Stimmung nur in der tiefsten Zurückgezogenheit.“
„Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langeweile; so ist das irdische Glück im Wesentlichen erreicht: denn das Übrige ist Chimäre.“
(Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit)
„Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein.“ (Thomas Mann: Der Zauberberg)
„Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen darüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den anderen zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll.“ (Georg Büchner: Dantons Tod)
Die Langeweile ist die „Anekelung seiner eigenen Existenz aus der Leerheit des Gemüts an Empfindungen, zu denen es unaufhörlich strebt“, Anthr. 1. T. § 14 (IV 44). Die Langeweile ergibt sich daraus, daß man auf sein Leben (s. Gefühl) und die Zeit aufmerksam ist. Das Leben ist eben „ein Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen“. Die in uns wahrgenommene „Leere an Empfindungen“ erregt ein „Grauen (horror vacui)“. Zeitverkürzungen sind schon Vergnügungen. Langeweile ist, wo „wenig Wechsel der Vorstellungen“ besteht. In der Erinnerung erscheinen die langweiligen Tage kurz eben wegen der Leere, der geringen Vorstellungen, ibid. § 61 (IV 157 ff.). „Wenn die gegenwärtige Zeit nur als ein Zwischenraum zwischen Mittel und Zweck betrachtet wird, so wird sie lang, aber mit Ekel“, N 391. (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht)
Müßiggang, so pflegt man zu sagen, ist eine Wurzel alles Übels. Um das Übel aus der Welt zu schaffen, hat man die Arbeit empfohlen. Diese Betrachtung ist jedoch, wie man aus dem eben Gesagten leicht ersehen kann, sehr plebejischer Extraktion. Müßiggang als solcher ist keineswegs eine Wurzel des Übels, im Gegenteil, er ist ein wahrhaft göttliches Leben, wenn man sich mir nicht langweilt. Natürlich kann der Müßiggang es veranlassen, daß man sein Vermögen verliert; aber davor fürchtet sich die adlige Seele nicht, wohl aber vor der Langeweile. Die olympischen Götter langweilten sich nicht, sie lebten glücklich in glücklichem Müßiggang. Eine weibliche Schönheit, die nicht näht noch spinnt, nicht strickt noch liest, auch nicht musiziert, ist in ihrem Müßiggang glücklich; denn sie langweilt sich nicht. Der Müßiggang ist also durchaus nicht die Wurzel des Übels, sondern viel eher das wahrhaft Gute. (Sören Kierkegaard: Entweder – Oder)
Der Tod
„Sich in Gedanken auf den Tod einrichten, heißt sich auf die Freiheit einrichten. (…) Niemals hat sich wohl jemand so vollständig darauf eingestellt, dass er der Welt Lebewohl sagen muss, wie ich und sich so allseitig von ihm gelöst. Der Tod ist am selbstverständlichsten, wenn man schon vorher möglichst tot ist“, schreibt Michel de Montaigne. Ganz anders Epikur: „Gewöhne dich an den Gedanken, dass der Tod uns nichts angeht.“ Und Thomas Nagel: „Manchmal wird behauptet, es sei der Vorgang des Sterbens, den wir in Wirklichkeit fürchten. Aber im Prinzip hätte ich ja nichts am Sterben auszusetzen, würde ihm nicht der Tod folgen.“ Und Buchinger?
Diese geballte Ladung an Tod hinterließ Spuren, auch in Buchinger. Was würde er tun, wenn er wüsste, dass er nur noch einen Tag zu leben hätte. Das Handy nehmen und alle anrufen, die er liebte? Sicher nicht. Er wollte nicht mit dem Handy am Ohr sterben. So weitermachen wie sonst, alltägliche Dinge erledigen, den Müll raustragen und einen Zahnarzttermin im nächsten Halbjahr vereinbaren? Er glaubte nicht, dass er sich diesen Anschein von Normalität abkaufen würde. Sich mit Bellucci verkriechen und weinend auf die Uhr blicken, wie sie sich unaufhaltsam auf die Stunde aller Stunden zubewegte? Irgendeinen Feind über den Haufen schießen? (…) Gut, dass er das nicht entscheiden musste. Dass so gut wie niemand diese Entscheidung treffen durfte oder musste. Die Moral würde dem Bösen Einhalt gebieten wie ein Damm aus Jausenpapier den Fluten.
Was, wenn die Materialisten doch nicht recht hatten? Materialisten wie Buchinger auch? Wenn man glaubte oder hoffte, endlich in aller Ruhe rüber gleiten zu können ins Nichts, ins Vergessen, in die Zeitlosigkeit, die Unzeit ohne Gedächtnis und Hoffnung, ohne Angst und Alltag? Und wenn sich diese Hoffnung als vergeblich, als Irrtum herausstellen sollte. Buchinger versuchte kurz, sich mit diesem Gedanken anzufreunden: Statt der erwarteten ewigen Ruhe empfängt dich nach dem ohnehin schon schmerzlichen Abschied und dem Sterben irgendein anderer Zustand, in dem es irgendwie weitergeht. Auf ewig zum Weitermachen verdammt. Verstört einen dieser Gedanke auch nur einen Augenblick lang, dann schweift man ab zu Belanglosem, einer nicht ausgeräumten Abwasch oder einer Verkühlung, einem neuen Auto oder dem Honig, den man einzukaufen vergessen hat, und tut so, als wären dies die eigentlichen Probleme. So stirbt man. Während man mit anderem beschäftigt ist. (171f)
Soundtrack
Hier eine Liste der im Roman vorkommenden Musik. Zum Nachhören.

Leonhard Cohen: The Goal https://www.youtube.com/watch?v=mszJwXsZwKM Neben Gustavs „Rettet die Wale“ der zentrale Song. Wäre er früher erschienen, er hätte garantiert seinen Platz im Roman, und zwar wegen dieser Zeilen: „„I sit in my chair, I look at the street, the neighbor returns my smile of defeat. I move with the leaves, I shine with the chrome, I’m almost alive, I’m almost at home. No one to follow, and nothing to teach, except that the goal falls short of the reach.“ Das spricht er, begleitet von einem alten Klavier und – in der Mitte des nur 73 Sekunden langen Tracks – von grillenhaft schwirrenden Gitarrensaiten wie in den aufregendsten Momenten seines ersten Albums.“ (https://www.diepresse.com/5697833/leonard-cohen-letztes-lied-im-letzten-sessel, 5.11.2020)
Rem: Losing My Religion https://www.youtube.com/watch?v=xwtdhWltSIg
Fun: We Are Young https://www.youtube.com/watch?v=FQLGhPHzxjc
Pink Floyd: Wish You Were Here https://www.youtube.com/watch?v=IXdNnw99-Ic
Gustav: Rettet die Wale https://www.youtube.com/watch?v=yvvK1KcxbVM
Rod Stewart: I Don‘t Want To Talk About It https://www.youtube.com/watch?v=w46bWxS9IjY
Giardino Armonico: Vivaldi Konzerte für Violinen https://www.youtube.com/watch?v=86Aqf2GTmCs
Cousteau: The Last Good Day Of The Year https://www.youtube.com/watch?v=66W0D7HMD0E
Nick Cave: Into My Arms https://www.youtube.com/watch?v=LnHoqHscTK
Devlin: Watchtower https://www.youtube.com/watch?v=LrxR_pzu094&t=173s
Lou Reed: Perfect Day https://www.youtube.com/watch?v=QYEC4TZsy-Y&t=47s
Jack Grunsky: Catherine https://www.youtube.com/watch?v=RjMCbKSoNp4
Muse: Unintended https://www.youtube.com/watch?v=i9LOFXwPwC4
Georg Danzer: Ruaf mi ned an https://www.youtube.com/watch?v=C5CDEJ-yCTQ
Wolfgang Ambros: Da Hofa https://www.youtube.com/watch?v=JjEX5TyOkWM
Offene Fragen
Welche Rolle spielt die „Störrische Kuh“ in diesem Roman?
Was könnte die verborgene Bedeutung der doch eigenartig anmutenden Worttripel „kriminelle Handlungen getätigt, Kritiker heimtückisch getäuscht, Konflikte heftigst genährt“ (S. 37) sein?
Wie heißt Bellucci wirklich?
Was hat Buchinger eigentlich studiert?
Vater und Sohn fahren im Auto. Sie haben einen schweren Unfall, bei dem der Vater sofort stirbt. Der Bub wird mit schweren Kopfverletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Die Operation wird vorbereitet, alles ist fertig. Der Chef-Chirurg erscheint, eine Kapazität für Kopfverletzungen, wird blass und sagt: Ich kann nicht operieren, das ist mein Sohn! Wie geht das? (Kap. 16)
Impressum
Impressum:
„Wer zuletzt lacht“ ist ein philosophischer Kriminalroman von Roland Luft (2020), Verlag federfrei. Auf diesen Seiten findet man Hintergrundinfos zur Philosophie und zu den Schauplätzen sowie Fragen, die der Roman offen lassen musste. Impressum: Roland Luft, 4600 Wels, r.luft@rocketmail.com. Ich habe keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten einschließlich aller Unterseiten. Ich distanziere mich daher ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten (einschließlich aller Unterseiten) und mache mir deren Inhalte nicht zu Eigen. Sollten Inhalte auf dieser Homepage ein allgemeingültiges Copyright verletzen, so ist das nicht meine Absicht und ich würde ein dementsprechendes Vergehen sofort korrigieren. Alle Inhalte auf der Website https://stoerrische-kuh.com unterliegen dem Schutz des Urheberrechts. Die Inhalte sind nur für den bestimmungsgemäßen Abruf im Internet frei nutzbar. Die Inhalte dieser Website dürfen ohne schriftliche Genehmigung nicht in irgendeiner Form kopiert, verbreitet, verändert oder Dritten zugänglich gemacht werden.